Comment on Ebbe und Flut by AiriKanda

Tutziputz's avatar
Interessante Geschichte, zumal sie mir einen ganz anderen Achill zeigt, als ich ihn kenne.

Ich muss gestehen, dass ich den Achill aus der Illias nicht besonders mag. Ich halte ihn für einen grausamen und eitlen Widerling, der seine eigenen Verbündeten schmollend im Stich lässt - ja sogar seine Mutter einspannt, sie solle bei Zeus gegen die Griechen intrigieren - als ihn ein zugegebenermaßen ebenso unsympathischer Agamemnon nicht entsprechend seiner eigenen Vorstellung behandelt (dabei ging es Achill, als ihm Agamemnon seine Sklavin Briseis wegnahm, ja noch nicht einmal um das Mädchen sondern nur um seinen verletzten Stoz). Auch dass Achill bei der Beerdigung von Patroklos 12 Jünglinge aus Troja als Menschenopfer abschlachtete ... na ja, wie gesagt, ich mag den Typen nicht.

Du hingegen zeichnest plötzlich das Bild eines nachdenklichen, ja sogar ängslichen und unsicheren Helden. Sehr spannend, denn das ist ein Achill, den ich sympatisch finden könnte. Das macht neugierig, wie es weitergeht...
AiriKanda's avatar
Vielen Dank, das freut mich wirklich über die Maßen!! :) Genau das war auch mein Ziel - euch einen völlig neuen, moderneren und sympathischeren Archilles zu zeigen. Tut wirklich gut zu wissen, dass mir das gelungen ist - Wahnsinn!

Ja, Achilles im Original ist ein etwas schwieriger Fall und, wie schon angemerkt, etwas antiquiert. Sprich: Sein Verhalten ist für uns nicht mehr zeitgemäß und daher schwer bis gar nicht nachzuvollziehen. Ein Held in unserer Zeit übt keine blutige Rache an Unschuldigen oder stellt seine eigenen Interessen auch nicht über die Leben seiner Freunde - damals scheinen das die Leute wohl anders gesehen zu haben. Das heißt ja auch nicht, dass ich so etwas gut heißen würde! Daher auch die zeitgemäßeren Änderungen oder vielleicht auch die Änderungen zu einem Archilles, wie ich ihn geschrieben hätte, wenn ich Homer gewesen wäre. Ja, die Geschichte mit Briseis ist auch so eine Sache, wobei darüber ja gestritten wird, worum es da wirklich ging. Ihr könnt ja schon mal überlegen, wie ich das dann wohl verpacken werde, wer weiß? ;)

Die Sache mit Patroklos ist etwas heikel, das stimmt, immerhin ist er der Mensch, der Archilles wohl auch im Original am meisten bedeutet hat. Du wirst dich ja bestimmt erinnern, dass Achilles nach dem Tod seines Vetters komplett die Kontrolle verliert und nur noch Trojaner niedermetztelt, darunter natürlich dann auch Hector. Ich will das auch selbst nicht gutheißen, ganz und gar nicht, aber irgendwie glaube ich, dass das fast jedem von uns passieren könnte, wenn der Mensch, der uns am meisten bedeutet, umgebracht wird. Ich glaube, da würde ich auch erst mal die Beherrschung verlieren - nur ist es halt so, dass mich unterschliedlichste Gründe an einem Blutbad hindern würden, darunter meine eigene Friedfertigkeit, meine körperliche Schwäche oder auch die gesetzlich/moralische Lage unserer heutigen Zeit. Aber zu Achilles' Zeiten ist das ja noch völlig legitim, seine Liebsten zu rächen, das gehörte dort sogar zum Ehrenkodex dazu! Sprich: Hätte er ihn nicht gerächt, hätte man das womöglich als Verrat an seinem Vetter betrachtet. Außerdem befanden sich die Griechen ja im Krieg, also hat niemand ihn gehindert und ihm geholfen, wieder zur Besinnung zu kommen. Im Gegenteil: Man war ja dann erleichtert, dass Achilles wieder back in business war!

Aber ich verstehe deinen Punkt vollkommen und stimme dir gern zu! Vielen Dank dafür, dass du meine Art, Achilles zu charakterisieren so schätzt, das bedeutet mir viel! Dass es mir gelungen ist dir einen Charakter, den du sonst gar nicht magst, sympathisch zu schildern ist für mich eine Ehre. :heart: Und ich freu mich ja schon so sehr zu erfahren, wie dir die Fortsetzung dann gefallen wird...
Tutziputz's avatar
Stimmt, Du hast recht. Die Illias spielt in einer gänzlich anderen Zeit mit vollkommen anderen Moralvorstellungen. So sind die Griechen ja mit dem expliziten Ziel aufgebrochen, nicht nur "über die breiten Straßen Trojas zu schreiten", sondern auch jeden männlichen Trojaner umzubringen und jede Trojanerin zu schänden. Jeder andere Ausgang andere wäre nach ihren Moralvorstellungen eine vollkommene Schande. Heftig!

Das erklärt natürlich auch einiges von Achills Geisteshaltung. Und zum zweiten muss man zu seiner Rechtfertigung auch noch hinzuziehen, dass ihm geweissagt worden war, dass er vor Troja zwar ewigen Ruhm aber auch seinen Tod finden würde. Das heißt, er wusste, dass er sein Leben für den Ruhm geben würde. Auch das erklärt natürlich auch, warum er so eitel auf seine Ehre und seinen Stolz bedacht war.

Trotzdem, Achill war zweifellos der größte Krieger seiner Zeit, aber gleichzeitig war er sowohl gegenüber seinen eigenen Verbündeten als auch gegenüber seinen Feinden völlig unberechenbar, wenn etwas nicht nach seinem Kopf ging. Sein Verhalten gegenüber den Griechen entbehrte jeder Loyalität. Immerhin hatte ihm außer Agamemnon keiner etwas getan, und trotzdem wünscht er ihnen die Niederlage (und vielen von ihnen damit den Tod), nur damit sie wieder zu ihm angekrochen kommen und um Hilfe anflehen. Und die Rache gegenüber seinen Feinden war ohne jedes Maß. Nein, vielleicht kann ich ihn verstehen, aber definitiv nicht mögen...

... und deshalb bin ich gespannt, wie sich "Dein Achill" entwickeln wird.
AiriKanda's avatar
Allerdings, ja, das ist für unser heutiges Verständnis von Moral gewiss absolut untragbar, aber für damalige Verhältnisse muss es wohl normal gewesen sein. Sonst würde die Geschichte es ja sicher nicht so erzählen - das ist eben der große Unterschied, wann und wie man ein Werk liest. Die Wirkung ist da natürlich immer vollkommen unterschiedlich! Die Griechen fänden unsere modernen Werke sicherlich auch vollkommen unverständlich.

In der Tat, ja! Achilles muss die ganze Zeit über mit dem Tod, der ihn erwartet, zurechtkommen - und auch sein Streben nach Ruhm und Ehre ist irgendwo nicht vollkommen unverständlich. Ich meine, was bleibt ihm denn schon anderes als das? Auf ihn zuhause wartet keine Familie, keine Freunde, keine Frau. Alles, was vor ihm liegt ist das, was er bekommen wird, es gibt kein vor und kein zurück. Nur den Krieg und den Tod. Dass er diese Situation zu seinem Vorteil zu nutzen versucht bzw. versucht, ihr noch etwas Gutes abzuringen, ist eine sehr natürliche Haltung. Nicht sehr weise und Ghandi wäre wohl dagegen. ;) Aber auf ihn und seine Zeit passt es.

Natürlich, Achilles war im Kampf eine Bestie, das war seine große Stärke und seine große Schwäche. Weißt du, die Griechen hatten ihm vielleicht nichts getan, aber er billigte den Weg, den sie einschlugen, nicht. Dass deswegen unzählige Unschuldige ihr Leben lassen mussten, bedenkt der klassische Achilles - im Gegensatz zu vielen Neuinterpretationen anderer Autoren - nicht. Ihm geht es um seine Sicht der Dinge. Allerdings müssen wir uns dann auch die Frage stellen: Läuft es heutzutage vielerorts nicht ganz genauso? Opfern nicht auch viele mächtige Menschen dieser Welt Leben für ihre Ideologien? Ich würde sagen: Ja, mehr den je!

Nein, Homers Figuren mögen ist einem modernen, umsichtigen Menschen wahrscheinlich nicht möglich, aber das Verständnis ihrer Taten ist definitiv schon etwas Wichtiges, Wertvolles. Die Erkenntnis, dass Menschen maßgeblich durch ihre Zeit und Umwelt beeinflusst werden, ist ein großer Schritt in Richtung globale Toleranz und menschlicher Größe. Nur, wenn wir uns gegenseitig verstehen, können wir lernen etwas besser zu machen, denke ich! :) I know, deep thoughts, aber so bin ich nun mal.

Das freut mich, ich hoffe, es wird dir gefallen! :)
Tutziputz's avatar
"Deep thoughts" ja, aber extrem gute!

Ich muss gestehen, so habe ich die Illias noch gar nicht betrachtet. So habe ich sie bisher eher aus der Sicht des "Hobbyhistorikers" gesehen. Dabei habe ich die Moralvorstellungen der Illias lediglich interessiert zur Kenntnis genommen, zeigten sie doch in gewisser Weise eine Art Startpunkt, von dem ausgehend sich unsere heutigen Moralvorstellungen entwickelt haben.

Aber der Gedanke, dass wir noch heute aus der Illias lernen können, ist mir noch nicht gekommen. Aber er ist richtig!

Und noch etwas ist mir gerade eben klar geworden. Achills "archaische Moral" (sorry für das kleine Wortspiel) hat immer existiert und existiert auch heute noch. Wann immer Menschen eine Gruppe an Mitmenschen nicht als gleichwertig angesehen, vergessen sie jedwede "moderne" Moral. Beispiele in der Geschichte aber auch in der Gegenwart gibt es zuhauf.

Du hast Recht, unter den Mächtigen auf dieser Welt ist "Achill" auch heute noch eher die Regel als die Ausnahme. Und sie opfern Leben (oder zumindest Existenzen) nicht nur für Ideologien, sondern auch für Aktienkurse, persönliche Egoismen und/oder - ebenso wie Achill - zur Befriedigung ihrer Eitelkeiten.

Die Figur des Achill ist viel universeller - und damit viel, viel interessanter - als ich gedacht habe.
AiriKanda's avatar
Dankesehr, das ehrt mich! :aww:

Ja, genauso sehe ich das auch. Viele alte Werke sollte man nicht nur auf ihre historischen Werte, sondern vor allem auch auf den Bezug zur Gegenwart untersuchen - etwas, was man (ich ebenfalls) manchmal zu tun vergisst, sich aber definitiv angewöhnen sollte, da es unglaublich spannend ist! Man kann so viel über uns und unsere Kultur lernen, wenn man "The big picture" mal beachtet und daher versucht, die größeren Zusammenhänge zu erkennen.

Schönes Wortspiel! ;) Und ja, absolut. Das Ablegen jedweder Menschlichkeit im Angesicht des Todes bzw. um zu siegen ist etwas, was wir immernoch allerorts feststellen können, sei es nun Wirtschaft oder Politik. Damals wie heute regieren meist die Rücksichtslosen. Leider ist das absolut unverändertes, typisch menschliches Verhalten - und dennoch glaube ich, dass es nicht so sein müsste. Wir könnten es anders machen! Wenn nur endlich einmal jemand aufwachen würde... Nicht, dass ich denke, dass ich irgendwie erleuchtet bin oder so. Aber zumindest ein gewisses Grundmaß an Toleranz wäre definitiv etwas, woran die Menschheit noch arbeiten müsste. Sonst versinkt die ganze Welt irgendwann in einem einzigen Krieg, so ähnlich wie in der "Ilias". Nur eben weltweit.

Oh ja, sie opfern Leben, denk nur an die ganzen furchtbaren Kriege der letzten Jahre. Und nicht nur das - auch Ausbeutung, Armut und Menschenrechtsverletzungen peinigen die große Masse der Unschuldigen, die sich überall findet. Doch wofür? Auf lange Sicht wird es niemandem helfen, ihnen genauso wenig wie allen anderen. Sie sägen an dem Ast, auf dem auch sie sitzen, ebenso wie Achilles. Eine einzige Vergewaltigung des "Carpe Diem" Prinzips, wenn du verstehst, was ich meine. Ja nicht an morgen denken. Hier und jetzt will man sein, sich selbst Befriedigung verschaffen und sich durchsetzen. Koste es, was es wolle.

Genau, das ist er! :) Find ich super, dass wir uns da so einig sind. Das macht mich echt happy.